Mir gaben sie die Farbe
Jeanne Quéheillard,
Designtheoretikerin

Nichts entkommt der Farbe. Sie ergreift uns, bevor wir sie ergreifen. Sie zu sehen, ist wieder etwas Anderes. Sie ist Teil der sinnlichen Weltordnung, daher sind Künstler, ob Designer, Architekten, Bildhauer, Schriftsteller, Filmemacher oder Musiker, direkt betroffen. Sie begreifen sie wie ein Phänomen, dessen Prinzip, Natur und Wirkung sie erforschen. Dank ihnen erfassen wir sie in ihrer physischen und symbolischen Materialität. Die nachfolgenden Kommentare zu einigen persönlich ausgewählten Werken lassen uns eintauchen in die Welt der Farben und die Erfahrungswelten der Künstler. Eine Blankovollmacht für einen Farbrausch.

Farbe zuordnen

Die Häuser, Möbel, Keramiken, Glaswaren, Objekte und Texte des italienischen Designers Ettore Sottsass sind prägend. Schichtungen, Spiel mit Volumen, leuchtende Farben, schimmerndes Gold, die Absorptionskraft von Schwarz, die Poetik seiner Texte erzählen die Welt, ihre Techniken, Kulturen und insbesondere ihre Bewohner. Die heterogenen, metaphorischen und kosmischen Konstruktionen zeugen von unersättlichem Appetit und unerschöpflicher Vitalität. Für Ettore Sottsass ist Farbe eine Existenzgrundlage. Eine Sprache noch vor dem gesprochenen Wort. In seinem Artikel „Couleurs“1 verfasst für Abel Laminati, einem Laminat-Hersteller für den er selbst zahlreiche Motive entwarf, spricht er von seinem Respekt und seiner Liebe zur Farbe. Er beschreibt „ein machtvolles, magisches, ungreifbares, flexibles, permanentes Material“, das man nicht verschwenden sollte. Er pflegt einen primitiven, in seiner Kindheit begründeten Bezug zur Farbe als „Farben selbst die Dinge verkörperten. Es waren nicht einfach „Farben“, sondern Wespen, Himbeeren, Pilze, Blumen. (…) Jedes Ding war was es war, mit der ihm jeweils zugeordneten Farbe“. Diese zugeordnete Farbe löst Affekte aus. In ihrer Vielfalt verweigert sie jede eindeutige Form. Trotz des Nutzens des wissenschaftlichen Bereichs der Farbe, verweigert sich Ettore Sottsass der klassifizierten, alleinstehenden Farbe, entstanden in der normierten Welt der Industrie, mit der er einst eng zusammenarbeitete.
„Farben sind ungreifbar, nie statisch. Man kann nicht von einer Farbe Nummer 225 sprechen, denn man weiß nie, ob die Nummer 225 nah oder weit vom Fenster entfernt ist, ob das durch das Fenster einfallende Licht das eines nebeligen Wintertags oder das gleißende Weiß eines Sommertags ist. Ob es das Licht unter Bäumen in Kambodscha oder in der Wüste Thar ist…“. In der staatlichen Manufaktur in Sèvres ist ein Rot Sottsass archiviert.

Farbe austauschen

Die Kamera des Künstlers Anri Sala entführt den Zuschauer in die Stadt Tirana. Die bunten Fassaden wirken in dieser baufälligen Stadt befremdlich. Verfallene Häuser, zerstörte Straßen, emsige Einwohner, kahle Bäume, eine quirlige Geisterstadt. „Die Stadt war ausgestorben… Ein Ort, der, ohne mit der Wimper zu zucken, alles schluckte“, erzählt der neue Bürgermeister und Künstler Edi Rama, der Anri Sala auf diesem Besuch begleitet. Er erzählt von einer verrückten sozialen Erfahrung durch Farben. 1997 folgte auf den Aufstand in Albanien eine Zeit der Anarchie und Plünderung. Die Hauptstadt Tirana war eine Ruinenstadt und Edi Rama beschloss, die Fassaden neu zu streichen. „Damni i colori, gebt mir Farben“ singt in politisch bewegten Zeiten der Künstler Cavaradossi, der Tenor in der Oper Tosca von Puccini.
Dieser der Arie entlehnte Filmtitel Damni i colori2 erzählt von einer ästhetischen und politischen Geste, bei der ein Fassadenanstrich mehr ist als nur Dekor. „Es ging darum die Stadt wieder lebenswert zu machen und einen Weg zu finden eine Stadt, in die dich das Schicksal verschlagen hat in eine Stadt zu verwandeln, die du selbst als Wohnsitz gewählt hast.“ Symbolisch und physisch einen Änderungsprozess materialisieren. Edi Rama entwarf selbst einen Plan für die Organisation der Farben. Er verleiht ihr eine organische Rolle bei der Wiederbelebung dieser individuell und brutal entgegen jeder Raumordnungs- und Nachbarschaftspolitik entstandenen Gebäude. Anfangs war die Bevölkerung schockiert und die Politiker sahen in dieser künstlerischen Aktion eine deplatzierte Laune. Laut Umfragen wollten jedoch 90% der Bevölkerung die Aktion weiterführen. Ganz Tirana, in Kaffeehäusern, in Presse, Funk oder Fernsehen oder auf der Straße, diskutierte über die Farben, tauschte sich unter Nachbarn aus, debattierte über ihre Eignung und die Kontraste. Farbe wurde zum Katalysator einer Gemeinschaft und einer Demokratie. Die Beziehungen zwischen Individuum und Autorität und die Konflikte zwischen dem persönlichen und dem gesellschaftlichen Leben wurden im Rahmen dieser Aktion neu definiert, Farbe wurde zu einer öffentlichen Angelegenheit.

Farbe durchdringen

Einen Abend lang stellte Cécile Bart Peinture d’un jour3 (Gemälde für einen Tag) aus. Während es langsam dunkel wurde, beobachtete ich „die Entstehung eines mobilen Bildes“. Licht- und Schattenmotive wurden auf bildschirmartige Rahmenkonstrukte mit lichtdurchlässiger Tergal-Bespannung projiziert. Im abnehmenden Licht konnte man ein vibrierendes Bild erkennen, während die Besucher langsam zu Schatten wurden. Diese einfache und präzise Installation gab mir das Gefühl einer greif- und erfassbaren Unmöglichkeit mit einer solchen Intensität, dass ich mich heute eher an ein Verschwinden als an eine Erscheinung erinnere. Diese verfälschte Erinnerung verbindet mich mit den einzigartigen, von Cécile Bart seit 1986 entwickelten „Peintures/écrans, Forschungsinstrumente“. Ein weißer Gardinenstoff aus Tergal dient als lichtdurchlässiger, nichtreflektierender Bildschirm. Auf diesem feinmaschigen Gewebe trägt sie mit einem breiten Pinsel eine relativ flüssige Farbe auf, die sich beidseitig festsetzt und die sie dann mit einem Tuch abwischt. Die auf einen Rahmen gespannte „Peinture/écran“ ist ein Gemälde, das man durchdringen kann. Cécile Bart installiert ihre Gemälde4 an von natürlichem Tageslicht durchfluteten Orten. Von der Decke hängend, an der Wand befestigt, auf dem Boden aufgestellt, überlappen sich die farbigen Flächen.
Sie projizieren ihre Farben und reagieren auf die wechselnden Lichtverhältnisse. „Farbe ist zuerst einmal ein rationelles und strukturierendes Element mit dem ich das Ensemble der Peintures/écran organisiere (sie wie ein Ballett-Ensemble)5“ erklärt Cécile Bart. Ballett auch auf Seite der Besucher. Ihr Spaziergang durch, zwischen, unter, über den Peintures-écrans ist ein regelrechtes Farberlebnis. Sie aktivieren Transparenz und Opazität, Farbverläufe und Vibrationen. Absorbiert von der kinetischen Textur der Farbe erleben sie hautnah unmittelbare Nähe, Kontraste, Verwischungen oder Verschärfungen.

Farbe hören

Nach einer Intro von 4’47’’ Länge rund um ein musikalisches Thema aus den zehn Noten des Namens M-I-L-E-S-D-A-V-I-S, tauchen wir mit Aura6 ein in 6’05’’ White, 6’49’’ Yellow, 8’39’’ Orange, 6’06’’ Red, 8’12’’ Green, 6’36’’ Blue, 4’17’’ Electric red, 6’05’’ Indigo, 9’05’’ Violet. Mit dieser Komposition für Orchester erforscht der dänische Trompeter Palle Mikkelborg das Zusammenspiel zwischen visueller und sonorer Wahrnehmung. Was man hört sind die Farben der auratischen Ausstrahlung von Miles Davis, seine Lebenskraft. Diese Mischung aus klassischem Orchester, elektronischer Musik und Synthesizer ist betörend. Die „Symphonie“ entführt den Zuhörer in eine Phantasiewelt, in der Töne eine Farbe und Farben einen Ton haben. Weiß ist Sternenlicht und Sternenlicht ist weiß. Rot ist Innerlichkeit, Innerlichkeit ist rot. Orange ist fröhlich, Fröhlichkeit ist orange und so weiter. Die Verwendung von gemeinsamen Begriffen wie Frequenz, Rhythmus, Farbskala, Ton und Halbton, Vibration, ist bereits ein Hinweis auf die poetischen Wechselbeziehungen.
Mit diesem Wechselspiel entführt Aura den Zuhörer auf magische Weise in die Welt der Farben. Er taucht ein in seine innere Wirklichkeit mit den unbestreitbaren und schwer vermittelbaren geheimen Konnotationen, wie wir sie vom Dichter Arthur Rimbaud kennen. 
A Schwarz, E Weiß, I Rot, U Grün, O Blau: Vokale.

 

 

Farbe herauslösen

Bei trockenem Schönwetter kreiert der Künstler Simon Quéheillard Pfützen7, in denen sich die Elemente aus der Umgebung spiegeln, eine Fassade, ein Blumentopf, eine Wolke, der Himmel, ein Baum, Vögeln, Farben… Dank eines empirisch entwickelten Verfahrens, bei dem Wasser, Wetter und ein Fotoapparat (oder eine Kamera) eine Rolle spielen, werden die Pfützen zu Wahrnehmungsinstrumenten. Darunter einige wie „Asphalte, lumière, eau“, die uns eine Selbstverständlichkeit vor Augen führen: Wir sehen in Farbe. Das künstlerische Verfahren verselbstständigt die Farben. Der Kunstgriff isoliert und löst sie von dem Objekt, dem sie zugeordnet waren.
Mit einer schwungvollen Geste wird Wasser aus einer Flasche mit Dosierverschluss auf den Boden gegossen. Es wird in Schlieren verzogen, was den Randverlauf der Pfützen verändert und verlängert. Die verstärkten elektrostatischen Eigenschaften des Wassers verändern den Spiegeleffekt. Die Schlierenform sprengt das Bild des gespiegelten Objekts, beispielsweise der Hausfassade, und zeigt nur Fragmente. Steht das Wasser still, ist das Bild wie eingefroren. Als erkennbare Eigenschaft verbleibt nur die Farbe, wie die Fotos beweisen. Es entstehen „naturalistische“ Aufnahmen, die den sonst vom bloßen Auge nicht wahrnehmbaren Lichteffekt erfassen. „Das Staunenswerte“, sagt der Künstler, „ist nicht das Objekt, sondern das Erscheinungsbild. Die Farbe wird herausgelöst, wie eine Form in der Bildhauerei.“ Staunenswert sind aber auch der fotographische Prozess, das Licht, die elektrostatischen Eigenschaften des Wassers, die Farbe. Man erlebt eine Transmutation wobei die Extraktion der Farbe den Eindruck einer Dissoziation erweckt. Als der Materie Wasser wird Quecksilber, Gold oder Blei.

Farbe weben

Der Künstler Pierre Leguillon sammelt japanische Kasuri Stoffe8. Er verwendet sie für seine Installationen, die er unter dem Namen Musée des Erreurs (Museum der Fehler) zusammengefasst hat. Darin sammelt und beschreibt er Bilder und ihre Träger, seien es Drucke aus Zeitschriften, Postkarten, Werbeträger, Stoffe, Plattencover oder andere Massenmedien. Er hinterfragt so den Annahmegrad der Kunst in unserer Gesellschaft. Für Mérida9 malte er beim Weben. 2017 entdeckte er auf einer Reise nach Mérida in Mexiko „bildhafte“ Renovierungsarbeiten an einer Mauer, deren Baufälligkeit durch Breite Pinselstriche in Rot, Blau, Gelb und Schwarz maskiert worden war. Dieses Motiv begleitete ihn 2018 auf seiner Reise nach Japan, in die auf der Insel Kyushu gelegene Stadt Yame. Zusammen mit dem Kasuri-Meister Kyözö Shimogawa kreierte er dort Mérida, ein Kurume Kasuri-Gemälde. Die farbigen, abstrakten Motive sind inspiriert durch die mexikanischen Pinselstriche, eine echte Herausforderung für einen Meister des Kasuri. Das teilweise mechanische Verfahren stammt aus dem Handwerk und wurde kombiniert mit dem Jacquard-System auf von Toyota zu Beginn des 20. Jahrhundert entwickelten Maschinen. Drei Monate dauerte es, die vier Farben zu integrieren und den Eindruck eines Pinselstrichs zu schaffen. Die Kettfäden wurden vor dem Weben abgebunden und gefärbt. In diesem Fall wurde die gelbe Farbe per Hand hinzugefügt. Die schwarzen Schussfäden bringen die Farben zum Leuchten. Die Schönheit des Gemäldes Mérida beruht in den kleinen „natürlichen“ Imperfektionen des Kasuri. Die Farbdichte ist unterschiedlich und die Motivränder unschärfer. Für den Künstler bieten diese Fehler die Möglichkeit der Schaffung eines Gemäldes mit unzähligen Variationen. Das in Form von 38 cm breiten Rollen (die traditionelle Stoffbreite für Kimono-Stoffe) gefertigte, rund 100 Meter lange Gemälde Mérida wird meterweise verkauft. Pierre Leguillon webt Beziehungen. Die einem prekären Lebensumfeld entstammenden Farben wurden einem japanischen Handwerker zur technischen Verarbeitung übergeben, um ein Kunstwerk in Serienfertigung zu schaffen. Dies alles in Verbindung mit Künstlern10, die in der westlichen modernen Kunstgeschichte die Kategorien des Originals und der Vervielfältigung, des Kunsthandwerks und der Industrie, gesprengt haben. Ihre Ausdrucksform ist die gewebte Farbe.

1. Les couleurs, in Notes sur la couleur, Ettore Sottsass et Barbara Radice, Abet Edizioni, 1993.
2. Damni i colori (Donne-moi les couleurs), Anri Sala, Voix Edi Rama. Vidéo 15’25“, 2003.
3. Invitée le 25 juin 2009 lors d’une séance de La Promesse de l’écran de Pierre Leguillon au CAPC à Bordeaux.
4. Parmi ses nombreuses installations : Habiter, 1994. Tanzen, 1998. Suspens de Rennes, 2018.
5. Cécile Bart, entretien avec Christian Besson, novembre 2011.
6. Aura a été enregistré en 1985 à Copenhague par Miles Davis et un big band. Publié par Columbia en 1989.
7. Ce que j’ai sous les yeux I et II, vidéos, 2004. Série de neuf photographies, dont Asphalte, lumière, eau, 2007.
8. Le kasuri japonais est un tissage fabriqué à partir de la technique de l’ikat. Les fils de trame et/ou de chaîne sont teintés avant tissage selon le principe de teinture à réserve par ligature. Les nouages se répartissent selon un plan de base qui anticipe les motifs. Cette technique a été très prisée au XVIIIe pour des soieries lyonnaises, sous le terme de « chinés à la branche ».
9. Pierre Leguillon, Mérida, 2018, 100 x 37,5 cm, pièce unique, partie d’une série. Produite en collaboration avec le maître de kasuri Kyösö Shimogawa à Yame, Japon.
10. Cette peinture se situe dans la filiation d’Anni Albers, Giuseppe Pinot-Gallizio ou encore Blinky Palermo.
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